Norbert Lammert: „Demokratie braucht Regeln und Vertrauen“

Lammert zeichnete ein realistisches, aber nicht pessimistisches Bild der Gegenwart. Polarisierung und Streit seien, so seine zentrale These, nicht automatisch ein Zeichen gesellschaftlicher Spaltung, sondern Ausdruck demokratischer Vitalität. „Demokratische Systeme müssen Zusammenhalt immer wieder neu erarbeiten – und zwar unter den Bedingungen der Unterschiedlichkeit der Menschen“, betonte er. Entscheidend sei nicht die Abwesenheit von Konflikten, sondern die Fähigkeit, diese nach gemeinsamen Regeln auszutragen.

„Eine moderne Gesellschaft kann nicht konfliktfrei bestehen. Aber es muss ein Mindestmaß an Gemeinsamkeiten geben, sonst sind die Konflikte nicht auszuhalten.”

Dabei erinnerte Lammert daran, dass der Erfolg einer Demokratie nicht an der Zahl ihrer Gesetze, sondern am Vertrauen in deren Geltung gemessen werde. „Die Stabilität demokratischer Systeme steht und fällt mit der Bereitschaft, die selbst gesetzten Regeln auch dann zu akzeptieren, wenn sie den eigenen Interessen zuwiderlaufen“, so Lammert. Wer die eigenen Überzeugungen absolut setze, verliere den Boden des demokratischen Kompromisses.

Regelakzeptanz statt Kommandos
Eine „Kultur der Regelakzeptanz“ ist für Lammert nicht nur eine der entscheidenden Lehren aus der deutschen Geschichte, sondern zugleich auch die wichtigste Versicherung gegen Erosionstendenzen. Denn im Gegensatz zu Autokratien könnten demokratische Systeme fehlenden Zusammenhalt nicht durch Kommandos ersetzen. Sie seien vielmehr darauf angewiesen, dass Menschen Selbstbeschränkung üben und gemeinsamen Normen vertrauen.

Mit Blick auf die globale Entwicklung zeigte sich der ehemalige Bundestagspräsident allerdings besorgt: Die Zahl stabiler Demokratien nehme ab, autoritäre Systeme gewännen an Einfluss. Drei Jahrzehnte nach dem Ende des Kalten Krieges stehe die Welt, so Lammert, erneut vor einer „Systemfrage“. Umso wichtiger sei die Fähigkeit, Vertrauen in politische Institutionen und Prozesse zu bewahren – auch in Zeiten, in denen Komplexität und Veränderung zunehmen.

„Das Vertrauen in konkrete Personen bleibt hoch.”

Vertrauenskrise gegenüber Institutionen – Vertrauen in Personen
Eine der größten Herausforderungen hierzulande sieht Lammert im wachsenden Misstrauen gegenüber Institutionen – beispielsweise gegenüber Parteien, Regierungen, Kirchen und Verbänden. Paradox sei jedoch: Das Vertrauen in konkrete Personen bleibt hoch: Während man „die Politik“ oder „die Kirche“ für problematisch halte, würden die Bürgermeisterin und der Pfarrer vor Ort geschätzt. Diese Diskrepanz zeige: Die Menschen wünschen sich Nähe, Verlässlichkeit und nachvollziehbares Handeln.

Lammerts Rede endete mit einem klaren Appell: Demokratie lebe von Haltung – und von Bürgerinnen und Bürgern, die bereit seien, Verantwortung zu übernehmen. „Zusammenhalt entsteht nicht von selbst. Er ist ein fortwährender Aushandlungsprozess – getragen von der Einsicht, dass wir aufeinander angewiesen sind.“

Der diesjährige LebensWert-Treff der Evangelischen Bank bot damit nicht nur einen nachdenklichen Auftakt, sondern auch einen Impuls für den weiteren Diskurs: über Verantwortung, Vertrauen und die gemeinsame Gestaltungskraft in einer Zeit des Umbruchs.