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Pflege-Nachwuchskräfte aus dem Ausland gewinnen

16. September 2025

Junger Arzt spricht an der Krankenhausrezeption mit seiner Kollegin.

Die Alerds Stiftung zeigt, wie internationale Freiwillige über ein FSJ für die Pflege gewonnen und begleitet werden können. Vorstand Michael Henze spricht über Chancen, Hürden und warum die Zukunft der Pflege neue Wege braucht – jenseits starrer Strukturen und kurzfristiger Lösungen.

Der Fachkräftemangel stellt auch Einrichtungen der Gesundheits- und Sozialwirtschaft vor strukturelle Herausforderungen: Der kontinuierlich steigende Bedarf an qualifizierten Pflegekräften kann nicht gedeckt werden – mit weitreichenden Folgen für die Versorgungssicherheit und die Arbeitsbelastung im Berufsalltag. Um diesem Trend entgegenzuwirken, sind vielfältige Lösungsansätze gefragt: Neben z. B. digitalen Lösungen, innovativen Arbeitszeitmodellen und attraktiven Arbeitsbedingungen kann auch die gezielte Rekrutierung von Nachwuchskräften aus dem Ausland ein Lösungsansatz für die bestehenden Herausforderungen des gesundheits- und sozialwirtschaftlichen Arbeitsmarktes sein.  

Die Zahlen sprechen für sich: Der Anteil ausländischer Beschäftigter in Pflegeberufen ist von 10 Prozent im Jahr 2018 auf 16 Prozent im Jahr 2023 gestiegen. Seit 2022 wird das Beschäftigungswachstum in der Pflege sogar ausschließlich durch ausländische Arbeitskräfte getragen (Quelle: Bundesagentur für Arbeit).

Die Alerds Stiftung aus Braunschweig verfolgt einen innovativen Weg: Sie ermöglicht jungen Menschen aus dem Ausland ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) in der Pflege – mit der Perspektive auf eine anschließende Ausbildung in der Einrichtung. Im Interview mit der EB spricht Michael Henze, Vorstand der Stiftung, darüber, wie dieses Modell funktioniert, welche Herausforderungen es mit sich bringt und warum langfristige Lösungen nur durch eine grundlegende Neuausrichtung des Pflegesystems möglich sind.

Herr Henze, wie kam es zu der Entscheidung der Alerds Stiftung, gezielt junge Menschen aus dem Ausland für ein FSJ in der Pflege zu gewinnen?

Das war eigentlich gar nicht als gezielte Strategie geplant. Wir haben verschiedene Ansätze ausprobiert – zum Beispiel die Anwerbung von ausgebildetem Personal aus dem Ausland oder auch die Förderung eigener Nachwuchskräfte. Dann kamen junge Leute von sich aus auf uns zu, die bereits in Deutschland waren, etwa als Au-Pair. In Abstimmung mit der Ausländerbehörde konnten sie im Anschluss ein FSJ bei uns machen. So hat sich das eher organisch entwickelt.

Besonders bei Ihrer Vorgehensweise ist, dass Sie, im Gegensatz zu anderen Programmen nicht bereits ausgebildete Pflegekräfte anwerben, sondern die Ausbildung nach einem FSJ vor Ort anbieten. Was hat Sie zu diesem Ansatz bewogen?

Wichtig ist zunächst: Jede einzelne Maßnahme muss von der Ausländerbehörde genehmigt werden. Gerade wenn FSJler direkt aus dem Ausland zu uns kommen, prüfen die Behörden sehr genau, ob es sich dabei nicht um ein Einfallstor für ein dauerhaftes Leben in Deutschland handelt. Das begrüßen wir ausdrücklich – denn auch uns geht es darum, Menschen zu finden, die sich wirklich für die Pflege begeistern.

Anfangs lief nicht alles reibungslos – wir mussten erst lernen, wie wir die jungen Freiwilligen bestmöglich begleiten und integrieren können Inzwischen haben wir unsere Praxisanleiter gezielt um eine Anleiterin für die FSJler ergänzt. Seitdem laufen die Begleitung und Abstimmung deutlich professioneller.

Zur Alternative ‚Anwerbung von Pflegefachkräften‘: Viele Einrichtungen sind aus der Not heraus gezwungen, diesen Weg zu gehen. Ich persönlich glaube aber nicht, dass dies die Pflege langfristig retten wird. Unsere Erfahrung zeigt eher, dass die Altenpflege häufig nur als Sprungbrett genutzt wird, um später ins Krankenhaus zu wechseln. 

EB: Wie gestaltet sich der Weg von der Ankunft in Deutschland bis zur Pflegeausbildung für die Teilnehmenden? Welche Unterstützung bietet die Alerds Stiftung den jungen Menschen dabei – sowohl organisatorisch als auch sozial?

Es gibt keine automatische Einbahnstraße vom FSJ in die Ausbildung. Wir können ein Ausbildungsangebot machen – die letzte Entscheidung liegt jedoch immer bei der Ausländerbehörde. Konkret unterstützen wir die jungen Menschen auf mehreren Ebenen. Natürlich kümmern wir uns um die Klassiker wie Wohnraum oder Hilfestellungen bei Behördengängen. Der entscheidende Punkt ist aber die Praxisanleitung. 

Michael Henze, Vorstand der Alerds-Stiftung
Michael Henze, Vorstand der Alerds-Stiftung

EB: Mit welchen Partnern im Ausland arbeiten Sie zusammen, um geeignete Kandidat:innen zu finden? Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit mit Behörden und Organisationen in den Herkunftsländern?

Ein sehr wertvoller Kontakt für uns war und ist Wolfgang Nickel von der Firma „Arbeit und Leben in Deutschland“. Von ihm und seinem Team haben wir viel gelernt und stehen bis heute in engem Austausch. Mittlerweile haben wir uns aber auch ein eigenes Netzwerk aufgebaut. Viele FSJler empfehlen uns über soziale Medien weiter – dadurch bekommen wir zahlreiche Anfragen. An Interessenten mangelt es uns also nicht.

EB: Wie reagieren die bestehenden Teams auf die internationalen Freiwilligen? Gibt es besondere Maßnahmen zur Förderung eines interkulturellen Miteinanders im Arbeitsalltag?

Da unsere Stammbelegschaft ohnehin aus sehr unterschiedlichen Kulturen kommt, ist Interkulturalität bei uns eigentlich gar kein großes Thema. Besondere Maßnahmen haben wir deshalb nicht. Die größere Herausforderung in der Pflege ist eine andere: Kaum ein Team arbeitet heute noch langfristig in einer stabilen Stammtruppe zusammen – das empfinden viele als belastend. Gerade die erfahrenen Pflegekräfte mit hohem Professionalitätsanspruch erleben, dass das Gesamtniveau sinkt. Dafür können unsere FSJler natürlich nichts. Uns ist aber wichtig, dass Frust aus dem Alltag nicht bei ihnen abgeladen wird. Deshalb achten wir darauf, sie gut einzubinden und zu schützen.

EB: Wie erleben die jungen Menschen selbst den Einstieg in die Pflege in Deutschland? Gibt es Rückmeldungen, die Sie besonders bewegt haben?

Für viele der jungen Menschen ist es zunächst überraschend, dass es in Deutschland Einrichtungen gibt, in die Familien ihre Angehörigen geben können – das kennen sie aus ihrer Heimat oft nicht. Besonders bewegt mich aber immer wieder etwas anderes: Diese jungen Leute verlassen ihre Heimat, ihre Familien und ihr gewohntes Umfeld, um unserer Gesellschaft zu helfen und Aufgaben zu übernehmen, die wir hierzulande selbst nicht ausreichend gelöst bekommen. Das macht sehr nachdenklich – und verdient großen Respekt. 

EB: Was müsste sich Ihrer Meinung nach politisch und gesellschaftlich ändern, damit die Gewinnung ausländischer Fachkräfte langfristig erfolgreich ist?

Zunächst müssen wir uns ehrlich fragen, wie lange wir uns das heutige Pflegesystem überhaupt noch leisten können und wollen. Die Antwort ist: Wir können es uns nicht leisten. Wir hängen an einer Struktur gewöhnt, die in Zeiten von Wirtschaftswachstum und hoher Arbeitsplatznachfrage entstanden ist, die heute aber nicht mehr trägt.

Deshalb müssen wir klären, welche Kräfte wir wirklich benötigen. Und aus meiner Sicht sind das weniger teuer eingekaufte Fachkräfte aus dem Ausland – die oft ohnehin ins Krankenhaus abwandern –, sondern engagierte Pflegehilfskräfte, die wir vor Ort für unsere Bedürfnisse qualifizieren können.

Kurzum: Das System ist krank. Ich würde mir wünschen, dass politisch und gesellschaftlich die Weichen so gestellt werden, dass wir gezielt Hilfskräfte aus dem Ausland gewinnen und innerbetrieblich qualifizieren können. 

EB: Wie kann sich die Pflegebranche insgesamt resilienter gegenüber dem demografischen Wandel und zukünftigen Krisen aufstellen?

Die Pflegebranche ist den Entwicklungen des demografischen Wandels im Grunde machtlos ausgeliefert, wenn wir weitermachen wie bisher. Wir müssen als Gesellschaft akzeptieren: Pflege kann nicht einfach vollständig an professionelle Einrichtungen ausgelagert werden – diese Vorstellung ist illusorisch. Alle müssen mit anpacken.

Aus meiner Sicht sind mehrere Veränderungen notwendig:

  • Die Kopplung von Pflegesachleistungen an bestimmte Wohnformen ist völlig überholt. Wir brauchen vielmehr vielfältige, individuelle Angebote, die in Dörfern und Stadtteilen entstehen – und die nicht gleich durch Bedenken aller Art verhindert werden. Pflegebedürftige sollten das Recht haben, sich Leistungen auch unkonventionell und flexibel zusammenstellen zu können. 

  • Politik, Verbände und Gewerkschaften müssen anerkennen, dass ein rein formelles Pflegesystem die Probleme nicht lösen wird.

  • Für Einrichtungen sehe ich vor allem weiterhin Bedarf an spezialisierten Angeboten, etwa für Menschen mit fortgeschrittener Demenz. Klassische Pflegeheime hingegen sollten nach und nach zu Wohnformen umgebaut werden, die an die heutige Eingliederungshilfe erinnern: kleinere, gemeinschaftliche Settings. Dort könnte ein gesunder Mix entstehen – aus professionell buchbaren Pflegekräften und An- oder Zugehörigen, die sich die Sorgearbeit teilen.

Nur so können wir die Pflege langfristig resilienter machen und den demografischen Wandel gestalten.

EB: Wie sehen Sie die Zukunft der Pflege in Deutschland?

Wenn es uns gelingt, in den kommenden zehn Jahren die Arbeit der Pflegefachkräfte in der Altenpflege von den heutigen starren Vorgaben zu entkoppeln, dann haben sie eine sehr gute Zukunft. Gut organisierte und fachlich kompetente Kräfte könnten endlich das tun, wofür sie ausgebildet sind – und auch als echte Fachkräfte anerkannt werden.

Die Alerds Stiftung zeigt mit ihrem Modell, wie internationale Nachwuchsförderung in der Pflege nicht nur gelingen, sondern auch nachhaltig wirken kann – vorausgesetzt, die Strukturen sind flexibel und die Begleitung individuell. Michael Henze macht deutlich: Die Zukunft der Pflege liegt nicht in der kurzfristigen Anwerbung von Fachkräften, sondern in der gezielten Qualifizierung engagierter Menschen – auch und gerade aus dem Ausland. Dafür braucht es politische Weichenstellungen, gesellschaftliche Offenheit und den Mut, Pflege neu zu denken: weg von starren Vorgaben, hin zu vielfältigen, gemeinschaftlichen und lokal verankerten Lösungen. Wer heute in junge Menschen investiert, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen, gestaltet eine Pflege, die auch morgen noch trägt – menschlich, resilient und zukunftsfähig.

Weitere Informationen zu internationalen Pflegekräfte in Deutschland finden Sie beim Pflege-Netzwerk Deutschland: Pflege Internationale Fachkräfte gut integrieren | Pflegenetzwerk

Weitere Informationen zur Alerds-Stiftung