„Wir bekommen ein massives Pflegefall-Problem“
20. Oktober 2025
Der Freiburger Finanzwissenschaftler Prof. Dr. Bernd Raffelhüschen zählt zu den Keynote Speakern des bevorstehenden LebensWert-Treffs der Evangelischen Bank am 12. November 2025. Im exklusiven EinBlick-Interview spricht er über die demografische Zeitbombe, die Fehler der Politik – und warum er sofort die Rente mit 70 einführen würde.
Herr Prof. Raffelhüschen, Sie warnen seit Jahrzehnten vor der demografischen Zeitbombe. Wie dramatisch ist die Lage tatsächlich?
Raffelhüschen: Die Lage spitzt sich jetzt endgültig zu. Mit jedem Jahr gehen die geburtenstarken Jahrgänge in Rente. Sie werden älter und kränker – und in zehn Jahren zu einem massiven Pflegefall-Problem. Das war seit 40 Jahren absehbar. Wir hätten reagieren können, haben es aber nicht getan.
Was muss jetzt geschehen, um das Renten- und Gesundheitssystem zu stabilisieren?
Raffelhüschen: Wir haben nur noch ein Zeitfenster von etwa zehn Jahren. Wenn wir in dieser Zeit das Renteneintrittsalter nicht erhöhen oder das Rentenniveau nicht absenken, dann brauchen wir es später gar nicht mehr zu versuchen. Dann ist es zu spät.
Viele sagen aber: Wer ein Leben lang eingezahlt hat, hat auch ein Anrecht auf Leistungen.
Raffelhüschen: Das stimmt – aber nur zur Hälfte. Der Generationenvertrag verlangt zwei Dinge: einzahlen und für künftige Beitragszahler sorgen. Wer nur gezahlt, aber keine Kinder großgezogen hat, hat eben nicht den vollen Anspruch. Die Babyboomer haben ihre Lasten selbst verursacht. Darauf müssen wir hinweisen, so unpopulär das auch sein mag.
„Der Generationenvertrag verlangt zwei Dinge: einzahlen und für künftige Beitragszahler sorgen.”
Warum fällt es der Politik so schwer, Lösungen durchzusetzen?
Raffelhüschen: Weil die Mehrheit der Wähler alt ist. Der Medianwähler in Deutschland ist älter als 55. Kein Mensch, der politische Verantwortung trägt, stellt sich gegen diese Mehrheit. Solidarität zwischen den Generationen gibt es nur, wenn Eltern gemeinsam mit ihren Kindern eine politische Mehrheit bilden. Aber darauf zu hoffen, fällt schwer.
Die Bundesregierung hat zuletzt die Schuldenbremse gelockert, auch um Zukunftsinvestitionen zu finanzieren. Profitieren davon nicht auch junge Menschen?
Raffelhüschen: Nur dann, wenn die Mittel konsequent in Infrastrukturprojekte gehen und nicht zweckentfremdet werden. In der Vergangenheit wurde viel zu viel Geld, das zur Verfügung stand, falsch eingesetzt. Statt in die Zukunft zu investieren, haben wir fast die gesamte „Friedensdividende“ in Renten und andere Sozialleistungen gesteckt. Das geht zulasten der jüngeren Generation.
Sehen Sie noch Chancen auf eine nachhaltige, generationengerechte Lösung?
Raffelhüschen: Ich bin skeptisch. Wahrscheinlicher ist, dass wir künftig Renten und Gesundheitsausgaben nach Kassenlage finanzieren müssen – mit schleichender Senkung des Leistungsniveaus. Die Pflege wird dabei zu einer der größten Belastungen, weil weder Eigenverantwortung noch Eigenbeteiligung gestärkt werden.
Wenn Sie selbst politisch entscheiden könnten – was würden Sie sofort ändern?
Raffelhüschen: Ich würde die Rente mit 70 einführen, beginnend beim öffentlichen Dienst. Zudem würde ich den sogenannten Nachhaltigkeitsfaktor in allen Sozialversicherungen anwenden: stabile Beiträge, dafür angepasste Leistungen. Die freiwerdenden Mittel müssten in Infrastruktur und Verteidigung fließen – in eine funktionierende Bahn, verlässliche Straßen und eine Bundeswehr, die ihren Auftrag erfüllen kann.