Immer mehr Technik in Medizin und Pflege – wo bleibt das Soziale?
Inhaltsverzeichnis
- „Künstliche Intelligenz kann die Patientensicherheit erhöhen“
- „Menschliche Zuwendung bleibt unersetzlich“
- „In der Pflege können Assistenzsysteme viel leisten“
- „Man muss die Menschen beim technologischen Wandel mitnehmen“
- Fazit
- Wie die Evangelische Bank die Gesundheitswirtschaft bei der Digitalisierung unterstützt
Der technologische Wandel prägt auch das Gesundheitswesen – digitale Innovationen wie beispielsweise Telemedizin, Sensorik und Assistenzsysteme haben die Möglichkeiten in Medizin und Pflege bereits grundlegend verändert. Beinahe täglich entstehen neue therapeutische Verfahren und Prozesse, und auch die künstliche Intelligenz ist längst auf dem Vormarsch. Das deutlichste Zeichen des medizinischen Fortschritts ist die weiter steigende Lebenserwartung – doch bleibt bei immer mehr Technik in Medizin und Pflege irgendwann das Soziale auf der Strecke? Wie sich der Wandel auf die Beziehung zwischen Patient:innen, Pflegekräften und Ärzt:innen auswirkt, haben vier Expert:innen aus dem Gesundheitsbereich beim LebensWert-Treff der Evangelischen Bank erörtert.
„Künstliche Intelligenz kann die Patientensicherheit erhöhen“
Priv.-Doz. Dr. Kia Homayounfar, Direktor der Klinik für Allgemein- und Viszeralchirurgie am Klinikum Kassel, sagt weitere Fortschritte bei der Technologisierung der Medizin voraus und ist überzeugt, dass Patient:innen von dieser Entwicklung profitieren werden.
„Schon heute arbeiten wir zu einem Großteil digital und mit ersten Unterstützungssystemen, beispielsweise bei der Medikamentenverordnung“, berichtet Homayounfar über den Alltag in der Chirurgie. So würden Algorithmen bei der Verordnung eines neuen Medikamentes automatisch im Hintergrund prüfen, ob sich dieses mit den bereits verordneten Medikamenten und den dokumentierten Allergien verträgt. In den letzten Jahren sind viele technologische Errungenschaften für den Operationssaal entwickelt worden: robotische Operationssysteme und Augmented Reality sind nur zwei davon. „Die Entwicklung ist total spannend und schreitet rasant fort. Zudem zeigt sich in vielen Fällen ein direkter Vorteil für die Patient:innen. Durch die Anwendung robotischer Operationssysteme, bei denen Chirurg:innen an einer Konsole im Operationssaal ein deutlich vergrößertes dreidimensionales Bild des OP-Gebietes sehen und so sehr präzise die feinen Instrumente an den Roboterarmen steuern können, lassen sich beispielsweise bei großen Darmoperationen viel besser wichtige Nervenstrukturen schonen“, beschreibt der Krankenhausarzt die aktuelle Situation.
In seiner Zukunftsvision sieht Homayounfar die Stärke der Technologieunterstützung in dem Zusammenspiel der unterschiedlichen Verfahren. Konsequent im Alltag lernende robotische Operationssysteme könnten anhand von cloudbasierten Systemen tausende Operationsdaten in Echtzeit mit der laufenden Operation vergleichen und so Operateur:innen vor schwierigen Situationen warnen. Dies würde die Patientensicherheit bei Eingriffen nochmal erhöhen und somit einen therapeutischen Vorteil gegenüber der klassischen Therapie bieten, ist sich Homayounfar sicher. Darüber hinaus wird es viele andere Einsatzbereiche für Künstliche Intelligenz (KI) und digitale Systeme in der Medizin geben, etwa bei der Auswertung umfangreicher Gewebeanalysen auf der Suche nach Angriffspunkten für eine individuelle Krebstherapie oder bei der Einführung neuer Leitlinienempfehlungen in den Krankenhausalltag. Seine Rolle als Arzt werde sich damit allerdings nicht grundsätzlich verändern: „Wir Menschen werden weiter die entscheidenden Berater:innen der Patient:innen sein, ihnen Zuwendung und Sicherheit geben“, sagt er.
„Menschliche Zuwendung bleibt unersetzlich“
Für Christoph Radbruch, Vorsitzender des Deutschen Evangelischen Krankenhausverbandes e. V. (DEKV), steht fest: Technologischer Fortschritt und menschliche Zuwendung sind zwei Seiten derselben Medaille. In einem Gesundheitssystem der Zukunft gehört beides zusammen.
„Zuwendung ist keinesfalls die Abwesenheit von hochmoderner Technologie in der Medizin“, betont Radbruch. „Vielmehr ist gute Zuwendung beste technik- und beweisgestützte Medizin gepaart mit Personen, die sich jedem Einzelnen in einer professionellen Beziehung zuwenden.“ Denn Krankenhäuser blieben trotz des Einzugs von KI und Hightech immer auch soziale Räume, in denen Pflegekräfte, Ärzt:innen und Patient:innen interagierten – dies müsse bei allem Fortschritt stets berücksichtigt werden.
Der DEKV fordert vor diesem Hintergrund einen sogenannten „Zuwendungsindex“, der langfristig in die Qualitätsbemessung der Krankenhausversorgung einfließt. Ein solcher Index könnte als Kompass in einer hoch technologisierten Krankenhaus- und Pflegelandschaft dienen und dabei helfen, Zuwendung im Krankenhaus ganzheitlich zu betrachten und objektivierbar zu machen: „Messbare Aspekte der Zuwendung würden erfasst und somit auch finanziell bewertbar“ sagt Radbruch. So könnten zukünftig medizinische Qualität und Zuwendung gleichermaßen honoriert werden.
„In der Pflege können Assistenzsysteme viel leisten“
Wie auch Pflegekräfte durch den Einsatz von modernen Technologien befähigt werden, sich ihren Patient:innen noch besser zuwenden zu können, weiß Pia kleine Stüve, Referatsleiterin Assistenzsysteme und Digitalisierung bei der Evangelischen Heimstiftung.
„Insbesondere in der stationären Pflege sind die Einsatzmöglichkeiten von Assistenzsystemen vielfältig“, berichtet kleine Stüve. Genutzt würden beispielsweise Sensoren zur Überwachung der Bewegung von Patient:innen in der Nacht, außerdem könnten das Schlafverhalten getrackt, Gesundheitsdaten ausgewertet oder die Feuchtigkeit in der Inkontinenzwindel gemessen werden. „So sind wir in der Lage, Rückschlüsse auf das Wohlbefinden unserer Patient:innen zu ziehen und ihnen eine optimale pflegerische Leistung anzubieten“, so kleine Stüve.
Allerdings: „Die Interaktion von Technologie und Mensch erfordert ein Umlernen“, sagt die Digitalisierungsexpertin. Denn Pflegekräfte müssten nun eine Antwort darauf finden, wie sie die neuen Technologien in ihren Arbeitsalltag integrieren und so die Vorteile in der Pflege erkennen. Außerdem müsse man Pflegekräften die Angst vor Technologie nehmen: Ein jüngst gestarteter Test mit einem sozialen Roboter namens Oskar in einer der Einrichtungen der Evangelischen Heimstiftung habe allen Beteiligten klar vor Augen geführt, dass solche Technologien Pflegekräfte nicht ersetzen, sondern unterstützen.
Kleine Stüve plädiert dafür, gerade junge Menschen aktiv in die Diskussion über das Verhältnis von Technologie und Zuwendung einzubeziehen. „Viele Menschen entscheiden sich für eine berufliche Laufbahn in der Pflege, weil ihnen Menschlichkeit, Liebe und Zuwendung wichtige Werte sind“, sagt sie. Die Resignation komme dann im Berufsalltag, der oft von Zeitdruck und Dokumentationsaufwand geprägt sei. „Technologie kann Freiräume für mehr Zuwendung und Nähe im Pflegeberuf schaffen und so die Attraktivität des Berufs wieder steigern“, ist kleine Stüve überzeugt.
„Man muss die Menschen beim technologischen Wandel mitnehmen“
Für Prof. Dr. Dr. Thomas Schildhauer, Wissenschaftlicher Direktor des Digital Urban Center for Aging and Health (DUCAH), steht außer Frage, dass der Dienst am Menschen durch Technologie optimiert werden kann. Ob dies gelingt, hänge allerdings entscheidend auch davon ab, wie gut das Personal an den technologischen Wandel herangeführt werde.
„Um zu erreichen, dass Pflegekräfte die Vorteile der neuen Möglichkeiten erkennen und nutzen können, müssen die Ausbildungsprogramme durch Lehrpläne erweitert werden, die den Umgang mit Technologie schulen“, fordert Schildhauer. Leider sei dieser Bereich in der Ausbildung bisher vernachlässigt worden. Es sei deshalb an der Zeit, die Lernsysteme zu erneuern und Technologiewissen als weiteren Bestandteil der Ausbildung zu etablieren. „Wir müssen als Gesellschaft schneller handeln, um die Belegschaft und Auszubildende in der Pflege für den Umgang mit moderner Technologie zu befähigen“, so Schildhauer.
Ein weiterer wichtiger Baustein ist nach Auffassung von Schildhauer eine fundierte wissenschaftliche Begleitung, um die soziale Akzeptanz bei der Einführung neuer Technologien zu erreichen. So werde beispielsweise die Einführung des sozialen Serviceroboters bei der Evangelischen Heimstiftung durch eine Studie flankiert, mit deren Hilfe gezeigt werden soll, wie der Roboter Pflegekräfte bei ihrer pflegerischen Tätigkeit unterstützt und ergänzt.
Fazit
- Fortschreitende Technologie, insbesondere Künstliche Intelligenz und Robotik, prägen die Zukunft des Gesundheitswesens.
- Bereits heute ist der OP-Saal ein Hochtechnologie-Betrieb. Auch der stationäre Bereich bietet vielfältige Einsatzmöglichkeiten für Assistenzsysteme.
- In Zeiten hoher Technologiedichte steigt die Bedeutung von „Zuwendung“ als integralen Bestandteil der Medizin.
- Ein Zuwendungsindex kann messbare Aspekte der Zuwendung objektivieren und finanziell bewertbar machen. So können Qualität und Zuwendung gleichberechtigt honoriert und medizinische sowie technische Maßnahmen als Ausdruck von Fürsorge zu betrachtet werden.
- Die Integration von Technologie erfordert ein Umlernen für Pflegekräfte, um die Vorteile und den Mehrwert der Technologie zu erkennen und im Arbeitsalltag zu nutzen.
- Die Einbindung junger Menschen in die Diskussion über Technologie in der Pflege ist essenziell. Technologie kann Freiräume schaffen, um so den Pflegeberuf attraktiv zu gestalten die soziale Komponente in der medizinischen Versorgung zu stärken.
- Es besteht die Notwendigkeit, Ausbildungsprogramme zu erweitern, um den Umgang mit Technologie zu schulen und in die Ausbildung zu integrieren, um die Belegschaft in der Pflege auf den Umgang mit moderner Technologie vorzubereiten.
- Eine wissenschaftliche Begleitung und laufende Studien helfen dabei, die soziale Akzeptanz neuer Technologien in der Pflege zu fördern.
Wie die Evangelische Bank die Gesundheitswirtschaft bei der Digitalisierung unterstützt
Die Evangelische Bank fördert die Digitalisierung in Pflege und Gesundheitswirtschaft als Gründungsmitglied des Netzwerks Digital Urban Center for Aging and Health (DUCAH). In diesem Verbund werden Kontakte zwischen Forschung und Praxis hergestellt mit dem Ziel, digitale Innovationen in Form von Prototypen in Krankenhäusern, Pflegeheimen etc. zu testen und weiterzuentwickeln. Von den Ergebnissen sollen Pflegebedürftige und Angehörige, aber natürlich auch Pfleger:innen und Ärzt:innen profitieren. „Mithilfe von DUCAH begleiten wir unsere Kunden bei der digitalen Transformation auf dem Weg zu einer nachhaltig lebenswerten Gesellschaft“, erklärt Joachim Fröhlich, Mitglied des Vorstands der Evangelischen Bank und Vorsitzender des Aufsichtsrates der DUCAH-Genossenschaft.
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