Werte, Krieg und die Suche nach Frieden
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat die Welt erschüttert und zu einer breiten Diskussion über ethische, politische und gesellschaftliche Werte geführt. Wie begegnet man Aggression?
Kann in der aktuellen Lage Gewaltfreiheit eine Lösung sein oder ist Abschreckung unumgänglich? Beim diesjährigen LebensWert-Treff 2024 in Berlin sprachen wir mit Dr. Christine Schweitzer und Prof. Dr. Friedrich Lohmann, die aus unterschiedlichen Perspektiven Antworten suchen.
Prof. Dr. Friedrich Lohmann ist seit 2011 Professor für Evangelische Theologie mit dem Schwerpunkt Angewandte Ethik an der Fakultät für Staats- und Sozialwissenschaften der Universität der Bundeswehr München. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Friedens- und Konfliktethik sowie in der Theorie der Menschenrechte. Er ist Mitglied im Heidelberger Forum Friedensethik und Mitherausgeber der Zeitschrift „Zur Sache Bw”, die im Auftrag der Evangelischen Militärseelsorge in Deutschland erscheint. 2023 erschien die friedensethische Studie „Maß des Möglichen” zum Ukraine-Krieg, zu deren Mitautoren Friedrich Lohmann gehört.
Dr. Christine Schweitzer ist Geschäftsführerin beim Bund für Soziale Verteidigung e.V. und wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Institut für Friedensarbeit und Gewaltfreie Konfliktaustragung. Ihre Schwerpunkte sind Zivile Konfliktbearbeitung, Soziale Verteidigung, gewaltfreie Intervention in gewaltsame Konflikte und Ziviles Peacekeeping. Bereits seit den 1980er Jahren ist die studierte Ethnologin ehrenamtlich und hauptberuflich vorwiegend in der Friedensbewegung aktiv. In den 1990er Jahren lag ihr Schwerpunkt auf Unterstützung von Friedensinitiativen im Raum des ehemaligen Jugoslawiens. U.a. war sie Mitgründerin und erste Koordinatorin des internationalen Balkan Peace Team.
Ein Großteil der deutschen Bevölkerung befürwortet mittlerweile Waffenlieferungen an die Ukraine. Vor einigen Jahren wäre dies undenkbar gewesen. Ist das eine Verschiebung der Werte?
Prof. Lohmann: Meine These ist, dass die jetzige Haltung der Bundesregierung und der Bevölkerung an die Idee der „freedom's journey“ anknüpft, die 1999 vom Economist beschrieben wurde. Der Wert der Freiheit bleibt zentral, aber die Umstände haben sich verändert. Freiheit wird heute unter anderen Bedingungen verteidigt, gerade angesichts eines Krieges, der die Menschenrechte massiv bedroht. Der Fall Ukraine steht für diese Werte, und es ist unsere Aufgabe, sie zu schützen.
Dr. Schweitzer: Diese Verschiebung sehe ich kritisch. Wer – wie ich – fordert, dass Verhandlungen stattfinden sollten, wird schnell als Populistin abgestempelt. Es ist jedoch legitim, die Unterstützung eines Krieges in Frage zu stellen, ohne den russischen Angriff zu rechtfertigen. Wir müssen über Alternativen zu Gewalt sprechen, auch wenn der Weg dorthin schwierig ist.
Prof. Dr. Friedrich Lohmann:
„Bei meiner Sicht der Dinge geht es um eine Limitierung von Gewalt, aber unter Umständen kann Gewalt gerechtfertigt sein. Und dabei spielt das Beistandsgebot eine wichtige Rolle.”
Gewaltfreiheit auf der einen Seite und die Beistandspflicht auf der anderen – wie lösen wir dieses Dilemma?
Prof. Lohmann: Das ist ein klassisches Dilemma der Friedensethik. Es gibt kein klares Richtig oder Falsch. Ich sehe Gewaltfreiheit als erstrebenswert, aber sie ist nicht immer ausreichend. Die Beistandspflicht rechtfertigt Gewalt, wenn es darum geht, einen rechtswidrig Angegriffenen zu schützen. Die Hoffnung bleibt, dass diese Gewalt begrenzt und ein Einlenken möglich wird.
Dr. Schweitzer: Für mich bedeutet Beistand nicht, Waffen zu liefern. Es geht darum, Alternativen zu suchen. Vor dem Krieg hatte die Ukraine die Möglichkeit, zivilen Widerstand zu leisten. Das ist jetzt vorbei, doch es gibt auch andere Wege, zu helfen – etwa dadurch, auf Verhandlungen hinzuwirken.
Prof. Lohmann: Waffenlieferungen sind für mich Teil eines Prozesses, der Verhandlungen ermöglichen soll. Ohne diese Unterstützung wäre die Ukraine längst überrannt.
Frau Dr. Schweitzer, wie bewerten Sie die Grenzen der Gewaltfreiheit?
Dr. Schweitzer: Gewaltfreiheit setzt auf die Moral des Gegners. Die Frage ist, wie viel Gewalt ein Regime wie das Russische gegen Zivilwiderstand anwenden würde. Gewalt erzeugt oft Gegengewalt, und so entstehen Eskalationsspiralen. Doch ziviler Widerstand ist keine Theorie – er findet auch in besetzten Gebieten statt, obwohl die Informationen darüber spärlich sind.
Prof. Lohmann: Ich respektiere den Ansatz des zivilen Widerstands, halte ihn in der aktuellen Situation jedoch für unrealistisch. Was wäre die Alternative gewesen? Die Ukraine hätte Gebiete kampflos aufgeben müssen – das hätte Millionen Menschen der Willkür eines autoritären Regimes ausgeliefert.
Dr. Christine Schweitzer:
„Ich halte das Prinzip der Abschreckung durch Aufrüstung für höchst gefährlich. In der Wissenschaft ist Abschreckung lediglich eine Theorie. Es ist nichts, was in irgendeiner Weise belegt wäre.”
Ist Aufrüstung ethisch vertretbar?
Prof. Lohmann: Ich sehe Aufrüstung kritisch, aber sie ist derzeit notwendig. Jahrzehntelang wurde unsere Sicherheitspolitik zurückgefahren, weil wir in Frieden lebten. Doch heute zeigt sich, dass Abschreckung wichtig ist. Das NATO-Gebiet bleibt durch diese Strategie unangetastet – ein Beweis, dass Abschreckung funktioniert.
Dr. Schweitzer: Abschreckung ist eine Theorie, keine bewiesene Tatsache. Sie birgt enorme Risiken, da sie zu einer Spirale der Militarisierung führt. Die aktuellen Aufrüstungspläne lagen schon vor dem Krieg bereit. Wir sollten stattdessen auf Deeskalation setzen. Je mehr wir aufrüsten, desto größer wird die Gefahr einer Eskalation.
Prof. Lohmann: Ein völliger Verzicht auf Verteidigung würde uns angreifbar machen. Abschreckung mag gefährlich sein, aber sie ist ein notwendiges Übel, um Aggressionen abzuwehren.
Welche Rolle spielen Verhandlungen in der aktuellen Lage?
Dr. Schweitzer: Verhandlungen sind essenziell, aber schwierig. Beide Seiten treten mit Maximalforderungen auf, die heruntergefahren werden müssen. Wir müssen kreative Kompromisse finden, die für beide Seiten akzeptabel sind.
Prof. Lohmann: Ich stimme zu, dass Verhandlungen der einzige Weg zu einer langfristigen Lösung sind. Doch solange Russland kein Interesse an einem Waffenstillstand zeigt, bleibt das schwierig. Es könnte darauf hinauslaufen, dass die Ukraine Gebiete abgeben muss, um weiteres Leid zu verhindern.
Dr. Schweitzer: Wir dürfen nicht aufhören, nach Lösungen zu suchen, die langfristig Frieden bringen – nicht nur einen Waffenstillstand.
Wie bewerten Sie die ethischen Aspekte der Rüstungsproduktion?
Dr. Schweitzer: Rüstungsproduktion verursacht massive ökologische und humanitäre Schäden. Wir sollten viel stärker in zivile Konfliktlösungen investieren, anstatt in Waffen.
Prof. Lohmann: Ich sehe den Konflikt, aber Rüstung ist Teil der Verteidigungsfähigkeit. In der aktuellen Lage brauchen wir diese Sicherheit.
Was möchten Sie unseren Leser:innen abschließend mit auf den Weg geben?
Dr. Schweitzer: Gewaltfreiheit, ziviler Widerstand und Verhandlungen sind keine bloßen Ideale, sondern realistische Ansätze. Wir müssen sie ernst nehmen, um langfristige Lösungen zu finden.
Prof. Lohmann: Wir müssen Werte wie Freiheit und Respekt hochhalten, aber auch die Realität anerkennen. Es gibt keine einfachen Antworten, nur die ständige Suche nach dem richtigen Weg.
Ein Fazit
Das Gespräch mit Dr. Christine Schweitzer und Prof. Dr. Friedrich Lohmann zeigt die Vielschichtigkeit der ethischen und politischen Fragen rund um den Ukraine-Krieg. Während Dr. Schweitzer auf Gewaltfreiheit und Verhandlungen setzt, verteidigt Prof. Lohmann die Notwendigkeit von Abschreckung und militärischer Unterstützung. Beide betonen die Bedeutung, nach Wegen zu suchen, die langfristig Frieden ermöglichen – auch wenn diese oft unbequem und kontrovers sind.
Wie steht der AKI zum Thema Rüstungsinvestitionen?
Vor dem Hintergrund der aktuellen geopolitischen Verwerfungen hat sich auch der Arbeitskreis kirchlicher Investoren (AKI) mit der Frage auseinandergesetzt, ob vor diesem Hintergrund Rüstungsinvestitionen in den Kanon investierbarer Assets für kirchliche Anleger:innen aufgenommen werden können, dies jedoch deutlich verneint: „Die Produktion von Rüstungsgütern mag in bestimmten Kontexten legitim und ethisch vertretbar sein, doch sie ist nicht nachhaltig“, erklärte Dr. Jörg Mayer, Vorsitzender des AKI beim LebensWert-Treff. Denn „nachhaltig“ bedeute auch, keinen signifikanten Schaden für Menschen, Infrastruktur oder Natur zu verursachen – und diesem Prinzip widersprächen Waffen grundlegend. Zudem sei Sicherheit durch Rüstung ein „öffentliches Gut“, dessen Finanzierung notfalls durch staatliche Mittel zu gewährleisten und somit nicht auf nachhaltig ausgerichtete Anleger:innen angewiesen sei. „Die EKD wird ihren Leitfaden für ethisch-nachhaltige Geldanlagen, an dem sich auch die Evangelische Bank orientiert, daher trotz des Ukraine-Krieges nicht ändern und Rüstungsinvestitionen auch künftig ausschließen“, betonte Mayer.
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