Wie wandelbar ist unsere Gesellschaft? Eine Analyse von Prof. Dr. Harald Welzer
Digitalisierung, Klimakrise und gesellschaftlicher Wertewandel fordern immer mehr Anpassungsfähigkeit. Doch: Wie wandelbar ist unsere Gesellschaft wirklich? Diese Frage stellte Prof. Dr. Harald Welzer beim LebensWert-Treff 2024 und lud ein, einen kritischen Blick auf die Entwicklung unserer westeuropäischen Gesellschaft zu werfen.
Wandelbarkeit im gesellschaftlichen Kontext beschreibt die Fähigkeit, sich an veränderte Bedingungen und Herausforderungen in der Gesellschaft anzupassen. Sie umfasst Offenheit gegenüber neuen Ideen, Technologien, sozialen Normen und Lebensweisen, um mit sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Veränderungen Schritt zu halten. Wandelbarkeit stellt eine essenzielle Fähigkeit dar, um zeitgleich gesellschaftliche Stabilität und Fortschritt zu gewährleisten. In Zeiten, in denen Globalisierung, soziale Unsicherheiten, Klimawandel und technologische Revolutionen den Alltag bestimmen, kann ein Mangel an Wandelbarkeit zu Stagnation und Konflikten führen.
Veränderungen der Einstellung zur Nachhaltigkeitsthemen
Der renommierte Sozialpsychologe Prof. Dr. Harald Welzer wies darauf hin, dass die Überzeugungen und Einstellungen von Menschen stark von Situationen und sozialen Bedingungen beeinflusst werden. Selbst tief verwurzelte Einstellungen könnten sich unter dem Einfluss äußerer Umstände stark verändern. Ein eindrückliches Beispiel hierfür sei die Entrechtung von Jüdinnen und Juden nach der Machtergreifung im Nationalsozialismus, ein Thema, mit dem sich Welzer intensiv in seinem Buch „Opa war kein Nazi“ auseinandergesetzt hat.
Eine Zeit des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufschwungs nach dem zweiten Weltkrieg bis hinein in die 90er Jahre habe für Wohlstand und Stabilität in Europa gesorgt. Erkauft wurde dieser Wohlstand auf Kosten der Umwelt, so Welzer. Seither habe sich eine gesellschaftliche Mehrheit dafür gefunden, dass dieser Weg nicht zukunftsfähig ist. An vielen Stellen habe es neben politisch und gesetzlich verordneten auch viele freiwillige Veränderungen hin zu mehr Nachhaltigkeit gegeben, die sogenannte Nachhaltigkeitstransformation.
„Ganz aktuell erleben wir allerdings einen Rollback in Bezug auf die Einstellungen zu Fragen von Nachhaltigkeit, Klima- und Artenschutz.”
Trotz der offensichtlichen Folgen des Klimawandels wie Extremwetterereignissen und dem massenhaften Artensterben wendeten sich viele Menschen von der Nachhaltigkeitstransformation ab. Dieses Phänomen sei laut Welzer sozialpsychologisch und kommunikativ erklärbar. Einerseits schaffe es Nachhaltigkeitskommunikation nicht, Menschen zu Beteiligten der Transformation zu machen. Zudem gelinge es nicht, ihnen den persönlichen Nutzen klargemacht: „Wer beim Klimawandel mit dem Eisbären auf der Scholle argumentiert, kommuniziert an der Lebenswirklichkeit der Menschen vorbei“, erklärte Welzer und weiter: „Menschen machen sich dann auf den Weg, wenn das Ziel attraktiver erscheint als ihre aktuelle Lebenssituation.“ Ein positives Zukunftsbild, das den persönlichen Nutzen der Menschen in den Fokus setzt, müsse her, so Welzers Fazit. Diffusen Zukunftsbildern wie dem Eisbären auf der Scholle würden viele sogar mit Verdrängung begegnen. In der Psychologie spricht man hier von Regression.
Welzer zeigte mit Blick auf das Thema Nachhaltigkeit, dass sich unsere Ansichten, Gefühle und Einstellungen über die Zeit stark verändern können. Sie seien nicht statisch, sondern ergeben sich daraus, was wir als „normal“ oder gesellschaftlich anerkannt wahrnehmen. Und das werde ständig neu verhandelt.
Dieses Phänomen wird „Shifting Baselines Syndrom“ genannt.
„Wie grundlegend und schnell sich individuelle und kollektive Einstellungen verändern können, kann man gerade beim Thema Nachhaltigkeit beobachten.”
Potenzial für positive Veränderung
Trotz dieser Herausforderungen, die in der Psyche des Menschen wohnten, sieht Welzer Potenzial für positive Veränderungen. Er ermutigte dazu, die Gesellschaft aktiv mitzugestalten und betonte die Wichtigkeit der Rolle von gesellschaftlichen Meinungsführer:innen und Medien bei der Gestaltung von Rahmenbedingungen. Besonders die politische Kommunikation und der Einfluss der Sozialen Medien spielten hier eine große Rolle. Damit Nachhaltigkeit nicht zum Greenwashing verkomme, sprach sich Welzer für mehr Glaubwürdigkeit im unternehmerischen Handeln aus: „Um glaubwürdig nachhaltig zu wirtschaften, muss man das erfüllen, worüber man redet. Das Schlimmste wäre, das eine verbal zu propagieren und das Gegenteil zu praktizieren.“
Abschließend rief Welzer dazu auf, die zivilisatorischen Errungenschaften unserer demokratischen Gesellschaft gegen den erstarkenden Populismus zu schützen und mit dem Schutz unserer Umwelt in Einklang zu bringen. Er betonte die Bedeutung von Diversität und den Einsatz für Demokratie und Offenheit. Laut Welzer liegt es an jedem Einzelnen, sich für ein zivilisiertes Miteinander einzusetzen und eine vielfältige und offene Gesellschaft zu bewahren. Hierzu brauche es Orte der Verständigung und des Dialogs.
Fazit
In einer Zeit, in der die Welt im Wandel ist, erinnerte Prof. Dr. Harald Welzer beim diesjährigen LebensWert-Treff daran, dass wir als Gesellschaft die Macht haben, positive Veränderungen herbeizuführen und eine lebendige und vielfältige Gesellschaft zu gestalten.
Erfahren Sie im Interview mit Harald Welzer, wieso seines Erachtens derzeit eine gesellschaftliche Rückentwicklung stattfindet und wie er die Transformation hin zu einer nachhaltigen Gesellschaft einschätzt.
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